Die Renovation des Geschäftsgebäudes an der Müllerstrasse 16/20 im Kreis 4 in Zürich ist ein Pionierprojekt in Bezug auf Zirkularität und Renovation. Das im Jahr 1981 errichtete Bürogebäude bietet eine vermietbare Fläche von etwa 16’000 Quadratmetern. Die Beton-Tragstruktur wurde weitgehend erhalten bzw. wiederverwendet. Erneuert wurden die Fassade, das Dach und die Gebäudetechnik. Für die Bauherrin Swiss Prime Site, die Allco AG und die Ilmer Thies Architekten AG ist diese Renovation ein Leuchtturmprojekt. Klar wurde vor allem, dass es für alle Lebensphasen des Gebäudes verschiedene Möglichkeiten gibt, wie Zirkularität umgesetzt werden kann.
Was war der Grund für den zirkulären Ansatz an der Müllerstrasse?
"Aufgrund der Rahmenbedingungen war der zirkuläre Ansatz sehr sinnvoll. Das Gebäude sollte schnellstmöglich wieder vermietet werden können und die Rohbaustruktur war in einem gutem Zustand mit auch nach heutigen Massstäben geeigneten Raumhöhen, weshalb ein Totalabbruch bzw. Gesamtneubau nicht zur Diskussion stand."
Urs Baumann, SPS AG
Planungsphase
Die Zirkularität eines Gebäudes wird in der Planungsphase bestimmt. Für das Projekt Müllerstrasse wurden alle Parteien in den Planungsprozess miteingebunden. Statiker haben die Gestaltungsmöglichkeiten analysiert. Der Fachplaner für Nachhaltigkeit hat unterstützt, ein sinnvolles Nachhaltigkeitslabel zu finden und im ganzen Prozess kontinuierlich die Nachhaltigkeit geprüft. Damit für den Mieterausbau nicht wieder Vieles umgestellt werden muss, wurde auch die zukünftige Mieterschaft früh miteinbezogen.
In der Planungsphase wurde der gesamte Materialbestand mittels Madaster erfasst, inventarisiert und bewertet, damit ein Grossteil der Bauteile und Materialien mittels “Mining” ins eigene oder in andere, laufende Projekte überführt werden konnten. Das Material- und Farbkonzept wurde vom Bestand abgeleitet, damit Bestehendes erhalten und Neues daran angepasst werden konnte. Das Design wurde folglich an das Gebäude und seine bestehende Materialisierung angepasst und nicht umgekehrt. Ein gutes Beispiel dafür sind die Terrazzoplatten in den Treppenhäusern, die beibehalten wurden und die Farbwahl für andere bauliche Entscheidungen beeinflusst haben.
In der Planung wurden bereits die End-of-Life Möglichkeiten des Gebäudes in Zukunft mitgedacht und eingeplant. Die flexible Grundrissstruktur soll zukünftige Anpassungen ermöglichen. Ausserdem vereinfachen die elementierte Bauweise beim Sekundärtragwerk und der Gebäudehülle sowie die klebefreien, demontierbaren Verbindungen die spätere Rückbaubarkeit und Trennung von Materialien.
Was war für Euch das grösste Learning in diesem Projekt?
"Potenziale zur Wiederverwendung zu erkennen und herauszustellen ist elementarer Bestandteil unseres Vorgehens in den frühen Projektphasen.
Weder der gedankenlose Abbruch noch der vollständige, konservatorische Erhalt sind hierbei zielführend. Wir analysieren die Gebäudestruktur sowie die verwendeten Bauweisen und Materialien, um über ihre direkte Weiterverwendung oder die Rückführung in zirkuläre Kreisläufe entscheiden zu können. Durch das Aufzeigen von präzisen Massnahmen am Bestand und der Erfüllung der gestellten Anforderungen von Eigentümer und Mieter, konnte schliesslich das Konzept des Weiterbauens überzeugen."
Felix Thies, Ilmer Thies
Konstruktionsphase
Nachhaltigkeit wurde auch auf der Baustelle frühzeitig mitgedacht. Durch Zusammenarbeit mit lokalen Unternehmen wurden Transportwege verkürzt, Mehrmuldenkonzepte zur Abfalltrennung und anschliessendem Recycling aufgestellt, Kompotois zur Stoffrückgewinnung eingesetzt und zur Lärmreduktion und Einsparung von Treibstoff mit Elektrobaggern gearbeitet. Ausserdem wurde der Aussenraum begrünt für erhöhte Biodiversität sowie Luftqualität.
Betriebsphase
Um auch in der Betriebsphase mehr Nachhaltigkeit zu realisieren, wurde die Haustechnikoffen und leicht zugänglich verlegt, damit Wartung, Austausch und Rückbau besser möglich sind. Die Unterlagsböden wurden alle durch Doppelböden ersetzt. Der dadurch entstandene Hohlraum konnte für Verkabelungen und elektronische Infrastruktur des Gebäudes genutzt und der Boden zerstörungsfrei revisioniert, rückgebaut und die Materialien vollständig wiederverwendet werden.
Renovation-/Sanierungsphase
Renovation respektive direkte Wiederverwendung wurde an der Müllerstrasse breit umgesetzt. Nebst den bereits erwähnten Terrazzoplatten wurden auch die Gussaluminiumpaneele der alten Fassade wiederverwendet. Der Rost wurde entfernt und nach Reinigen in der neuen Fassadenverkleidung wieder eingesetzt. Aus den Restflächen der Paneele wurden Wand- und Deckenverkleidung sowie Schilder für die Signaletik hergestellt.
Abgebrochene Betonwände und -brüstungen wurden geschnitten und zu neuen Sitzbänken geschliffen. Fensterglas wurden zu Deckenleuchten umgenutzt. Auch die gesamte Haustechnik wurde wiederverwendet.
Rückbau und Wiederaufbereitung von Baumaterialien
Die Müllerstrasse zeigt beispielhaft, wie auf unterschiedlichste Weise die vielen verschiedenen Materialien aufbereitet und weiterverwendet werden können.
Einige rückgebaute Komponenten, wie beispielsweise die Küche, der Veloständer oder ein Teil der Terassenplatten wurden direkt auf der Schweizer Bauteilbörse “Salza” angeboten und so weitergenutzt.
Viele Materialien wurden erhalten. Bei 66 Prozent des Asphalts und bei 80 Prozent des Stahls war dies der Fall. Da das Wiedereinschmelzen von Stahl mit grossem Energieaufwand verbunden ist, ist der Erhalt und die direkte Wiederverwendung die beste Lösung.
Andere Materialien konnten durch verschiedene Veränderungsprozesse wieder eingesetzt werden:
Der Mauerwerksabbruch wurde gebrochen, sortiert und gesiebt, um ihn anschliessend dem RC-M-Beton beizumischen und wiederzuverwenden. 70 Prozent des Betonabbruchs konnte durch direkte Wiederverwendung vor Ort wieder genutzt werden. Ein zusätzlicher Teil wurde als Staub aufgeschäumt und von Swisspor zum Dämmstoff Ecorit verarbeitet.
Grössere Mengen des Stahlbetons wurden gefräst, wegtransportiert, dann sortiert und als Recyclinggranulat dem genutzten Beton und den Terrazzoböden als Zuschlagstoffe beigemischt oder extern für Recyclingbeton verwendet. Die Stahlbewehrungen aus den Stahlbetonbauteilen, welche etwa 90 Prozent des Abbruchs ausmachten, wurden wieder eingeschmolzen und recycelt. Denn normalerweise kann zwei Drittel eines neuen Stahls aus Rezyklat bestehen ohne Eigenschaften einzubüssen.
Fensterprofile aus Aluminium wurden sortenrein getrennt, eingeschmolzen und als Recyclingaluminium in der neuen Fassade sowie den Stützenverkleidungen eingesetzt. Das Rezyklieren von Aluminium hat grosses Potential. Die Rückführung von Alt-Aluminium braucht 95 Prozent weniger Energie als die Herstellung von Aluminiumelementen aus Primärmaterial. Ohne die Eigenschaften zu verändern oder die zukünftige Rezyklierbarkeit einzuschränken kann Aluminium bis zu 75 Prozent aus Rezyklat bestehen.
Das Kupfer aus Rohren und Kabeln wurde gesammelt. Auch Kupfer kann beliebig oft und ohne Qualitätsabnahme rezykliert werden. Das neu eingesetzte Material kann bis zu 100 Prozent aus rezykliertem Kupfer bestehen, dessen Herstellung nur 20 Prozent so viel Energie verbraucht wie die Herstellung aus Primärmaterial. Nach sortenreiner Trennung wurde auch das Glas gebrochen und zu 100 Prozent zu Glasgranulat, welches vielseitig wieder eingesetzt werden kann.
Auch der Gips wurde zu 100 Prozent zu Vollgipsplatten oder Gipsputz weiterverarbeitet.
Komponenten wie beispielsweise Wände und Bodenplatten, die neu dazugekauft werden mussten, hatten die Cradle to Cradle Certified®-Zertifizierung. Durch die Bestandsaufnahme der neuen und angepassten Materialien in Madaster ist die Wiederverwendung der verbauten Elemente in der Müllerstrasse auch in Zukunft möglich.
Das Projekt an der Müllerstrasse zeigt: Es ist schon vieles möglich und umsetzbar. Wichtig ist, diese Möglichkeiten von Anfang an mitzudenken und zu implementieren.
Was würdet ihr anderen Akteur:innen mit auf den Weg geben, um sie für ähnliche, zukünftige zirkuläre Bauprojekte, wie das an der Müllerstrasse zu motivieren?
«Auf Seiten des Bauherren braucht es die Bereitschaft und den Wunsch nach nachhaltigem Bauen. Zudem müssen für ein erfolgreiches Projekt im Betrieb beziehungsweise im Fachplaner:innenteam ausreichend Ressourcen vorhanden sein, die sich mit der Thematik des nachhaltigen Bauens auseinandersetzen möchten.
Ein weiterer Punkt, den wir gerne weitergeben möchten, ist die Erkenntnis, dass zirkuläres Bauen keine Nachteile wie z.B. Mehrkosten mit sich bringt.»
Marco Schneider, Allco AG
Quelle: Ilmer Thies Architekten AG, 2021: Zirkuläre Nachhaltigkeit – Totalsanierung Bürohaus Müllerstrasse 16/20, Version 3. Das Buch wird bis Ende Jahr 2024 überarbeitet und nochmals veröffentlicht.
Bild 1 & 3: © Circular Hub
Titelbild, Bild 2, 4, 5, 6, 7 & 8: © Noshe